Im Laufe der intensiven, komprimierten FIM MXGP-Weltmeisterschaftssaison 2020 sind zwei der fünf Fahrer von Red Bull KTM Factory Racing aufgrund von Verletzungen ausgeschieden.
Was passiert eigentlich, wenn Profi-Rennfahrer zwangsweise zuhause bleiben müssen? Wir haben Jeffrey Herlings und Rene Hofer gebeten, uns von ihren Sofas aus ein paar Fragen zu beantworten …
Jeffrey Herlings kennt die Höhen und Tiefen dieses Sports genau. Nach mehr als einem Jahrzehnt in der Weltmeisterschaft, vier Weltmeistertiteln und der dritthöchsten Anzahl von Grand-Prix-Siegen hat das 26-jährige Red Bull KTM-Ass das Spiel um Unfall, Verletzung, Operation, Rehabilitation, Genesung und Comeback schon einige Male durchgemacht.
Herlings‘ Zeiten als einer der größten Fahrer in der Motocross-Geschichte wurden immer wieder von Zwangspausen unterbrochen. In den Jahren 2010 (in dem er als 15-Jähriger debütierte), 2013, 2014, 2015, 2019 und 2020 war er mit verschiedenen Diagnosen Gast auf dem Operationstisch. Ein beeindruckendes Detail dabei ist, dass sich Herlings bis auf zwei all seine bösen Verletzungen (eine ausgekugelte Schulter, drei Schlüsselbeinbrüche, ein gebrochener Oberschenkel, ein gebrochener kleiner Finger, ein ausgekugeltes Hüftgelenk, zwei gebrochene Füße, ein Wirbelbruch) zugezogen hat, während er die rote Startnummerntafel des Tabellenführenden trug. Die #84 kennt nur alles oder nichts.
Die MXGP des Jahres 2020 anführend, stürzte der Niederländer während des freien Trainings zum Grand Prix Citta di Faenza in Italien. Die Genick- und Rückenverletzung, die er sich dabei zuzog, warf ihn aus dem Rennen um einen fünften Weltmeistertitel, da er die nächsten vier Läufe aussetzen musste. „Mit dieser Verletzung bin ich leichter fertiggeworden … aber hart war es schon“, sagt er heute, nach einem weiteren Eingriff, um Komplikationen einer Fußoperation von 2019 zu beheben. „Das ist letztes Jahr passiert und war ‚OK‘“, sagt Herlings, „da die Weltmeisterschaft noch nicht einmal begonnen hatte. 2014 und 2015 war anders – da hatte ich einen großen Vorsprung gehabt; 2020 ist sozusagen die dritte Weltmeisterschaft, die ich in den Sand gesetzt habe. Die Statistik ergibt einfach keinen Sinn: Ich habe 90 GPs, aber nur vier Meisterschaften gewonnen.“
Ich bin schon sehr enttäuscht, aber wenn du am Boden liegst und den eigenen Körper eine halbe Stunde lang nicht spürst, bist du schon froh, wenn du am Ende davonhumpeln kannst“, fügt er hinzu. „Dann zählen die Resultate nichts mehr. Dann ist man einfach erleichtert, gesund zu sein, und heute habe ich keine Schmerzen mehr in meinem Rücken oder Genick. Jeder derartige Rückschlag ist hart, aber der Sport bewegt sich so schnell vorwärts, die Bikes sind so schnell, dass man eigentlich nur mehr darauf wartet, dass etwas schiefgeht. Das gehört zu diesem Sport dazu und das müssen wir akzeptieren.
Jeffrey Herlings
Im Gegensatz zu Herlings, seinen 11 Jahren in der MXGP und seiner Vielzahl von Rennen und Pokalen, steht der 18-jährige Rene Hofer noch am Beginn seiner Karriere. Bevor die Covid-19-Pandemie die Saison zum Stillstand brachte, hat der Österreicher bereits in die Top-5 der MX2 hineingeschnuppert. Als sie im August mit einem Rennen in Lettland wieder aufgenommen wurde, missglückte ihm ein Sprung auf der Strecke von Kegums, er landete auf seiner rechten Seite und brach sich die Schulter. Nach einem Besuch im Operationssaal ist Hofer auf dem Weg der Genesung.
Zuerst dachten die Ärzte, ich hätte mir die Schulter ausgekugelt. Sie versuchten, sie wieder einzurenken!“, sagt er und verzieht bei der Erinnerung daran das Gesicht. „Der Knochen war nahe der Schulter gebrochen. Die ersten Röntgenaufnahmen verhießen nichts Gutes. Der Knochen steckte im Muskel und die Ärzte mussten in die Trickkiste greifen! Jetzt fühlt es sich gut an. Anfang Oktober konnte ich das erste Mal wieder richtig trainieren und das war ein großartiges Gefühl. Ich weiß immer noch nicht, warum der Knochen gebrochen ist. Ich stieß das Bike noch in der Luft von mir weg und ab da weiß ich nicht, wie es passiert ist
Rene Hofer
Obwohl Hofer jünger als Herlings ist, hat er mit dem Gefühl, einen potentiellen Titel zu verlieren, bereits Bekanntschaft gemacht. Bei einem Rennen zur deutschen ADAC MX Master-Serie 2018 beendete ein Unfall seine Chancen auf den EMX125-Europameisterschaftstitel. „Der Unfall 2018 war eine härtere Nuss als der in diesem Jahr“, stellt er fest. „Wegen Covid fühlt sich diese Saison irgendwie nicht wie eine ‚richtige Saison‘ an. Wir hatten bisher nur zwei Rennen. 2018 war ich auf dem Weg zum Meisterschaftstitel, weshalb die Verletzung so schmerzte. Außerdem war ich jünger und konnte damit noch nicht so gut umgehen. In diesem Fall waren die ersten zwei Wochen hart, insgesamt aber konnte ich diesen Unfall mental besser verarbeiten.“
Für viele Motocrosser ist die ,verlorene Zeit‘ nach einem Unfall und einer Operation eine besonders schwere. Normalerweise steht genau geplantes Fahren, Trainieren und Erholen auf dem Programm und plötzlich Schwierigkeiten mit alltäglichen Bewegungen zu haben, ist das ganze Gegenteil davon. Für Menschen, die es gewohnt sind, ihr Leben in einem schnellen Rhythmus zu leben, ist es so, wie wenn bei Vollgas die Bremsen gezogen würden.
„Es gibt einen Punkt, an dem man sich sagt: ‚Ich habe im Winter so hart gearbeitet und all diese Rennen gewonnen und dann war alles umsonst‘“, so Herlings zu seinem inneren Kampf. „Für mich gibt es nur ein Ziel: die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Und das war 2020 wieder der schwierigste Teil an dieser Verletzung – die Tatsache, dass ich Mist gebaut hatte. Die Schmerzen waren dieses Mal nicht so schlimm. Ich hatte keine starken … und wusste, dass ich wieder 100% genesen würde. Es tat mehr weh, dass ich es selbst vermasselt hatte.“
Für Hofer ist „die Langeweile der schwierigere Teil“. „Zuerst ist man froh, dass die Operation gut verlaufen ist und die Schmerzen fast oder ganz weg sind. Als ich mir die Schulter brach, verbrachte ich fast 24 Stunden im Hotel und bekam nur Schmerzmittel. Zurück in Österreich ging es sofort ins Spital und dort kümmerte man sich spitzenmäßig um mich. Wieder voll hergestellt zu werden, ist beruhigend. Aber wenn man wieder zuhause ist und nicht viel tun kann, stellt sich schnell Langeweile ein. Wenn man sich aufrafft und ein paar Rennen im Fernsehen anschaut, kann einen das sogar traurig machen.“
„Anfangs brauchte ich etwas Zeit für mich alleine“, fügt er hinzu. „Danach sah ich fern und tat gar nichts. Wenn man einmal anfängt, sich wieder zu bewegen und etwas Rehabilitationstraining – oder sogar richtiges Training – zu machen, wird es mental einfacher. Dann hat man weniger Zeit zum Nachdenken als vorher … und weniger Zeit, um an die schlechten Dinge zu denken. Am besten ist es, so bald wie möglich wieder Dinge zu unternehmen: mit Freunden ausgehen, sich ablenken. Das Schlechteste, was man tun kann, ist einfach dazusitzen und an Motocross zu denken: Das zieht einen nur runter.“
Herlings hatte sogar noch mehr Zeit zum Nachdenken. Er hat einen großen Teil der Saison 2019 verpasst und muss jetzt wieder zusehen. Wenn er auf seiner KTM 450 SX-F sitzt, ist er eine Naturgewalt, aber ohne seinen allumfassenden ‚Hauptberuf‘ (für den er nach eigenen Worten im Jahr 2018, in dem er 17 von 19 GPs gewann, „wie ein Mönch“ gelebt hat) musste er sich einen neuen Lebensstil aneignen. „Ich bin jetzt 26 und Motocross ist seit langem ein wichtiger Teil meines Lebens“, erklärt er. „Als Jugendlicher konnte ich an nichts anderes als das Rennfahren denken, aber diese Verletzungspausen und Dinge wie die Corona-Zwangspause geben einem Zeit, um an die Zukunft zu denken. Wir legen heute Geld an, damit ich auch nach meiner Karriere noch ein Einkommen beziehen kann. Ich liebe das Rennfahren nach wie vor und hoffe, dass mein Fuß wieder so weit heilt, dass ich es wieder genießen kann.“
Beide Rennfahrer haben den Blick bereits auf das nächste Jahr gerichtet. Ein Ziel zu haben, ist ein weiterer wichtiger Bestandteil in verschiedenen Phasen des Genesungsprozesses eines professionellen Athleten. Für Menschen, die leidenschaftlich danach streben, immer besser zu werden, ist das sogar ganz normal. „Ich habe zur Rehabilitation zwei Monate im Red Bull Athletes Performance Centre in Salzburg verbracht“, so Hofer. „Ich sollte im Dezember wieder so weit sein, dass ich fahren kann, weiß aber noch nicht, ob ich gleich wieder trainieren kann oder ob man mir zuerst die Platte in meiner Schulter herausnehmen muss. Das wird Ende November entschieden. Ich habe meinen Blick auf 2021 gerichtet, bin also nicht in Eile und kann mich voll auf die Rehabilitation konzentrieren.“
Sein Adrenalin in die richtigen Bahnen zu leiten und neue Stufen der Performance zu erreichen, ist nur ein Teil dessen, was es bedeutet, ein Top-Motocross-Fahrer zu sein – einer, der gut genug ist, um für Red Bull KTM anzutreten. Hinter den Kulissen gibt es weitere Aspekte und Herausforderungen, die nichts mit dem Fahren selbst zu tun haben. Aber auch diese können entscheidend zu ‚Sieg‘ und ‚Niederlage‘ beitragen.