Aberwitzige Schräglagen und hochmoderne Technik helfen dem Fahrer dabei, das Maximum herauszuholen – aber wie ist es eigentlich, bei einem MotoGP ™-Motorrad Gas zu geben (und den Geschwindigkeitsrekord im GP-Sport einzustellen …)? Wir haben bei Red Bull KTM Factory Racing nachgefragt …
Also gut: Sehen wir einmal über den unglaublich langen ersten Gang hinweg, der es so schwer macht, mit einem MotoGP-Prototypen überhaupt in Fahrt zu kommen, und reden wir stattdessen über die auf jeden Fahrer eigens zugeschnittene Ergonomie, fette, klebrige Michelin-Reifen und eine unglaubliche Wendigkeit – alles Zutaten in einem Cocktail, der gemixt wird, um 280 PS aus einem 1000-cm3-V4 bestmöglich auf den Boden zu bringen.
Natürlich ist jede KTM RC16 genau auf den jeweiligen Fahrer und seine Aufgabe, die Grenzen der Physik auszuloten und nach Zehntelsekunden zu jagen, zugeschnitten. Das trifft auch auf das Ride-by-Wire-System zu. Das ‚Gas‘ selbst besteht aus mehr als nur einem Gummigriff und einer Feder (der Umdrehungswinkel ist maßgeschneidert und laut Miguel Oliveira, Sieger des GP von Katalonien, ist es „sehr leichtgängig“). Eine Drehung des rechten Handgelenks entfesselt eine Lawine aus Drehmoment und Power. Diese in eine gute Rundenzeit umzusetzen, ohne dabei die Reifen zu pulverisieren, bedarf guter Einstellungsarbeit.
Feintuning
Das Team bei Red Bull KTM Factory Racing analysiert die Runde des Fahrers und stellt die Leistungsabgabe für jede Kurve – manchmal jeden Sektor – eigens ein.
„Die Verbindung zwischen dem Gasdrehgriff und dem Hinterrad – zusammen mit der Elektronik – hat große Auswirkungen auf das Gripniveau und wenn das Bike zu stark driftet, muss die Traktionskontrolle eingreifen“, fügt Oliveira hinzu. „Das Feedback ist von Strecke zu Strecke unterschiedlich.“
„Sobald das Team weiß, wie, wann und wie stark der Fahrer den Gasdrehgriff öffnen will und wie stark man die Reifen beanspruchen kann, kommt viel Elektronik ins Spiel“, so Oliveiras Crew Chief Paul Trevathan. „Wir spielen mit dem Drehmoment und der Traktionskontrolle herum. Nicht immer wird die Power direkt vom Gasdrehgriff ans Hinterrad übertragen … aber wir versuchen, dies so gut wie möglich mit den anderen Basiseinstellungen des Bikes in Einklang zu bringen.“
„Ein Fahrer kommt zum Beispiel in die Box und sagt: ‚zwischen Kurve 4 und 5 fühlt sich das Gas zu flach an …‘ oder ‚am Ausgang von Kurve 8 habe ich zu wenig Kontrolle‘“, fügt er hinzu. „Die Fahrer lenken das Bike mit dem Gas. So können sie seine Bewegungen auf der Rennstrecke steuern und kontrollieren. Es geht nicht nur darum, einfach Vollgas zu geben.”
„All das ist extrem kompliziert und ich ziehe es vor, gar nicht zu wissen, wie das alles funktioniert!“ sagt etwa Brad Binder. „Ich komme in die Box und sage: ‚Ich brauche hier mehr Power, dort weniger und dort mehr Wheelie Control …‘ und so weiter. Das gilt auch für die Motorbremswirkung. Ich sehe mir selten an, was das Bike im Detail tut. Ich sage den Mechanikern einfach, was ich fühle.“
„Im Zusammenhang mit der Elektronik ist wichtig, sie für den Fahrer so transparent wie möglich zu machen“, so Trevathan. „Wir versuchen, es dem Fahrer zu ermöglichen, das Bike mit dem Gas zu lenken, manche Fahrer aber möchten es so eingestellt haben, dass sie auf manchen Strecken Vollgas geben können und die Elektronik den Rest erledigt. So müssen sie sich darum nicht mehr kümmern. Wenn sie es schaffen, dieses optimale Feeling zu erreichen, können sie das Bike genau so lenken, wie sie es wollen.“
Es ist kaum überraschend, dass man auf manchen Strecken härter ans Gas gehen kann als auf anderen. Das Layout und die lange Gerade des Chang International Circuit erlauben viel Vollgas – ebenso die Auslegung des Red Bull Rings in Österreich und eine Strecke wie der Twin Ring Motegi in Japan. Auf anderen Strecken (sogar recht vielen) muss der Fahrer sensibler mit dem Gas umgehen. „In Jerez setzt der Motor nur für wenige Sekunden pro Runde seine ganze Kraft frei“, so Trevathan. „Die Bikes sind so unfassbar schnell, dass die Gerade schon wieder endet, sobald sie den Vollgas-Bereich erreichen! Die Fahrer geben so gut wie nie Vollgas.“
Umsetzung
Der Start ist einer der Abschnitte eines Rennens, bei dem die Fahrer den Gasgriff bis zum Anschlag herumdrehen. Glücklicherweise können sie sich dabei auf ‚Holeshot-Devices‘, Launch-Control und Traktionskontrolle verlassen. Diese Systeme sind darauf ausgelegt, so viel kontrollierbare Power wie möglich ans Hinterrad zu übertragen sowie das Vorderrad am Boden und das bockige Bike auf gerader Linie zu halten.
Das Gas sorgt für Vortrieb, die Bremsen für Verzögerung und das Kohlefaser-System von Brembo, das an der KTM RC16 (und allen Bikes im Feld) verbaut ist, ist nicht nur extrem wirksam, robust und teuer, sondern muss auch mit unglaublichen Kräften fertigwerden. Bei der Einfahrt in manche Kurven (wie San Donato, der ersten Kurve in Mugello) sind die Fahrer Querbeschleunigungskräften von 1,5 G ausgesetzt, wenn sie von 350 auf 95 km/h herunterbremsen und bis zu 6 kg Druck auf den Bremshebel ausüben.
All das bedeutet, dass der rechte Arm des Fahrers harte Arbeit leisten muss. Viele MotoGP-Fahrer leiden unter ‚Arm-Pump‘ und manche müssen sich gar operieren lassen, um die ‚Blockade‘ zu lösen. Das alles hat einen Effekt darauf, wie sie mit dem Gas umgehen. „Beim Arm-Pump ist das größte Problem nicht das Gasgeben, sondern das Verzögern – der Prozess, wenn du das Gas schließt und die Vorderradbremse aktivierst“, gibt Binder zu Protokoll. „Dann spürst du kaum, wie viel Druck du ausübst. Das macht dich nervös und du brauchst zu lange, um zum Bremsen zu wechseln. Und dann bist du nicht mehr sicher, wie stark du am Bremshebel ziehen sollst. Es ist knifflig.“
Grinsen
Die MotoGP ist aufgrund ihrer Geschwindigkeiten, Technologien und Strecken die Königsklasse des Motorrad-Rennsports. Die 23 Fahrer im Feld haben einen außergewöhnlichen Job. Tatsächlich verbringen sie abseits der 19 GP-Rennen und einer Handvoll Tests gar nicht so viel Zeit auf ihren mehrere Millionen Euro teuren Motorrädern. Deshalb müssen sie andere Wege finden, in Form zu bleiben und ihren ‚Drive‘ nicht zu verlieren. Das sind meistens Motocross, Flat Track und Ausflüge auf die Rennstrecke mit modifizierten Sportmotorrädern. Sobald sie aber einen MotoGP-Vertrag unterschrieben haben, sind sie Teil einer privilegierten Welt.
„Ich kann mir nichts Vergleichbares vorstellen“, so Binder. „Wenn du zum ersten Mal am Gas drehst, denkst du dir ‚wie soll ich mit diesem Ding zwei Runden am Stück abspulen?‘, bevor du dich einfach daran gewöhnst. Es ist ganz schön verrückt.“
Seit dem GP von Mugello Ende Mai ist der Südafrikaner der Ex-Aequo-Rekordhalter für die höchste je in der MotoGP erzielte Geschwindigkeit. Auf der langen Geraden des italienischen Kurses erreichte er phänomenale 362,4 km/h. „Ich kam gut aus der letzten Kurve vor Start-Ziel und konnte den Windschatten gut nutzen“, erinnert er sich. „Ich sah meine Geschwindigkeit und dachte ‚aber hallo‘. Auf der Geraden spürst du 20 km/h Unterschied nicht besonders – dafür umso mehr, wenn du für die erste Kurve bremsen musst. Dort fällt dir dann auf, dass du schneller als sonst bist.“
„Es war verdammt cool, danach meine Geschwindigkeit zu sehen“, fügt er hinzu. „Außerdem war es fantastisch, für das Team, für die tausenden Stunden am Teststand zuhause im Werk mit so einem schnellen Bike belohnt zu werden.“
Oliveira lässt die MotoGP lieber abseits des Bikes auf sich wirken. „Es ist immer noch umwerfend für mich, vom Streckenrand aus zuzuschauen“, sagte er uns letztes Jahr. „Wir fahren so oft und andauernd am Limit, deshalb ist das [Fahren] wohl nicht so faszinierend wie das Zuschauen! Manchmal ist die Beschleunigung noch beeindruckend, wenn ich auf dem Bike sitze. Insgesamt aber ist es interessanter, vom Rand aus zuzuschauen und zuzuhören. Nur so bekommt man wirklich einen Eindruck von den Geschwindigkeiten und den unglaublich kurzen Bremswegen. Das ist schon umwerfend.“