Seit dem Einstieg der Marke in die Königsklasse 2017 hat KTM den Rückstand seiner Bikes auf die Spitze der MotoGP um fast zwei Sekunden verkürzt. Technical Coordinator Sebastian Risse verrät, wie das Team dieses Kunststück im Laufschritt bewerkstelligt hat.
Seit den Anfängen der RC16 im Jahr 2016 und dem ersten Wildcard-Einsatz des Teams im spanischen Valencia im selben Jahr fungiert Sebastian Risse als Verbindungsmann zur Rennstrecke. Der Deutsche ist einer von mehr als 30 Mitarbeitern bei Red Bull KTM Factory Racing. Sein Einflussbereich erstreckt sich auch auf die Mannschaft von Red Bull KTM Tech3 und die 15 Mitarbeiter des Test-Teams. In der Zentrale in Mattighofen sind weitere technische Experten und ein Teil der 600 Mitarbeiter zählenden Forschungs- & Entwicklungsabteilung eng involviert.
KTM hat mit der RC16 rasant Fortschritte gemacht. Das Motorkonzept wurde überarbeitet und der typische Stahl-Rahmen weiterentwickelt. Die Mannschaft weiß also, wie man schnell weiterkommt. Eine der besten Anekdoten dreht sich um das Test-Team und den Einsatz des brandneuen Motors bei einem Michelin-Reifentest in Le Mans im Jahr 2017. Espargaró packte den verbesserten Motor kurzerhand in ein Privatflugzeug, um in Jerez einen weiteren Test zu fahren. Ein paar Tage später war er wieder in Le Mans und beim dortigen Rennen eingesetzt.
„Natürlich sind wir daran interessiert, dass die Entwicklung schnell und immer schneller vorangeht. Andererseits musst du darauf achtgeben, dass der Prozess kontrollierbar bleibt“, erläutert Risse. „Wenn mehrere Veränderungen gleichzeitig entwickelt werden, müssen alle zusammenspielen, was die Komplexität des Unterfangens massiv steigert. In einer neuen Saison ein neues Bike an den Start zu bringen, bringt viele Entscheidungen mit sich, ganz zu schweigen von vielen Testteilen, die zusammenpassen müssen. Wir bewegen uns auf einem schmalen Grat der Kontrollierbarkeit. Du kannst nicht mehr und immer mehr tun, weil es einfach nicht funktionieren wird.“
Am Anfang war KTM gefordert, die RC16 in- und auswendig kennenzulernen sowie ihre Vorzüge und die Ideen des Teams zu bewerten. „Dieses Projekt steckt noch in den Kinderschuhen und wir finden andauernd neue Dinge heraus“, so Risse. „Die Elektronik ist offensichtlich ein sehr komplexes Thema und eines, das auf der Strecke seine Komplexität zeigt. Bei anderen Komponenten manifestiert sich die Komplexität eher im Werk – etwa, wenn es um ein neues Fahrwerk, ein neues Teil oder einen neuen Motor geht. Dann testen wir auf der Strecke, probieren Dinge aus und analysieren. Neue Teile sind entweder besser oder schlechter und dann müssen wir eine Entscheidung fällen. Die Komplexität wandert von Teil zu Teil! Bei der Elektronik müssen wir auf jedes Detail achten und uns alles, was der Fahrer uns sagt, genau anhören. Wir müssen immer wieder reingehen und versuchen, Unterschiede zwischen einzelnen Sitzungen oder sogar den einzelnen Läufen innerhalb einer Sitzung zu finden. Auch die Aerodynamik des Motorrads entwickelt sich weiter und beim Fahrwerk haben wir viel an der Steifigkeit gearbeitet. Wir begannen als ‚die Neuen‘ und da wir uns für einen Stahlrahmen entschieden hatten, konnten wir auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen. Stattdessen mussten wir hier und in anderen Bereichen unseren eigenen Weg finden. Das hieß, viele zusätzliche Schritte zu machen und viele zusätzliche Testbikes zu bauen. Es war auf jeden Fall ein breites Feld.“
Technische Entscheidungen sind logischerweise mit viel Druck verbunden. Sollte KTM einen falschen Schritt machen, könnte das ein paar Zehntel pro Runde kosten und die RC16 in der Startaufstellung ganz nach hinten verbannen. Risse gehört zu den Menschen, die diese Entscheidungen treffen, ist aber nicht der, der sie anstößt. „Es ist toll, wenn eine Theorie, die Daten und der Fahrer in die gleiche Richtung deuten. Dann sind wir zu 100 % sicher, dass wir auf einer heißen Spur sind. Wenn das nicht der Fall ist, heißt das, dass wir etwas lernen können. Für mich hat der Fahrer oberste Priorität. Er muss Vertrauen in unsere Lösungen haben. Idealerweise hält man sich an das, was der Fahrer sagt, und lernt in anderen Bereichen dazu, bis man eine Erklärung für das ‚Warum‘ hat [warum man das Bike verändern muss]. Dann vergleicht man das mit den Daten, um am Ende zu einer zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. In diesem Prozess können viele Sachen an verschiedenen Punkten passieren.“
„So ist es“, bestätigt Risse. „In Bereichen wie Aerodynamik, Fahrwerkssteifigkeit und Elektronik arbeiten wir mit den Jungs von KTM STREET und dem Produktionsmanagement in der Forschungs- & Entwicklungsabteilung zusammen. Das betrifft nicht nur einzelne Entwicklungen, sondern auch Ansätze und Analysen, etwa Erkenntnisse zu gewissen Effekten und wie diese in andere Lösungen, Teile oder Ideen übertragen werden können, die [auf den beiden Bikes] mitunter völlig unterschiedlich aussehen. Es gibt Dinge, die wir lernen können … oft ist es aber leider nicht ganz so einfach.“ Wie wär‘s mit einem Beispiel? „Fahrwerkssteifigkeit“, antwortet er. „Es geht darum, wie man ein Fahrwerk steifer macht, und auf der anderen Seite darum, wozu die Steifigkeit dienen soll. Wir müssen uns fragen, welche Probleme eine Veränderung verursachen können. Dann sind da noch Produktionsprozesse, besonders bei Serienmotorrädern, und ihre Umsetzung in der MotoGP. In manchen Bereichen gibt es Überschneidungen.“
Wie fast alle globalen Sportserien ist die MotoGP-Saison 2020 noch nicht so richtig in Gang gekommen, was die Errungenschaften beider Teams in den Wintertests etwas auf die hohe Bank geschoben hat. Wenn und falls KTM wieder Rennen fahren kann, wird ihre Attacke auf die Königsklasse des Motorrad-Rennsports ganz sicher in die nächste Runde gehen.